Wie viel Anstand brauchen Politiker?

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In Demokratien ist es riskant, wenn Politiker:innen das Vertrauen ihrer Wähler:innen verletzen.

Ibizagate, der Sturm auf das Kapitol in Washington oder Oppositionspolitiker:innen, die an Demonstrationen, Seite an Seite mit extremistischen Gruppen, teilnehmen. Alle drei sind prominente Beispiele, in denen Politiker:innen dramatisch aus der Reihe tanzten. Aufrichtige Reue und Moral sucht man vergebens. Was sie außerdem vereint? Auch heute noch sind sie Teil der politischen Bühne. Manche mehr, manche weniger. Da stellt sich die Frage: Wie viel Anstand brauchen Politiker:innen?

Auf der einen Seite sehen wir Politiker:innen, die aufgrund einer Plagiatsaffäre ihr Amt niederlegen. Auf der anderen Seite stehen all jene, an deren Karrieren Skandale regelrecht abprallen. Doch selbst wenn die Reißleine irgendwann gezogen wird – viele von ihnen erleben im Nachhinein eher eine Auszeit, gefühlt ein Sabbatical, anstelle ihres politischen Karriereendes. Wissenschaftlicher Betrug mag zwar gemeinhin ein Kavaliersdelikt sein – er zeugt jedoch von allem anderen als Anstand. Noch weniger der Antritt bei der Wien-Wahl von Heinz-Christian Strache, als Spitzenkandidat seiner neu gegründeten Partei. Die Causa Ibiza? Mittlerweile immerhin ein Weilchen her.

Das geht auch anders. Der ehemalige Gesundheitsminister, Rudolf Anschober, twitterte damals im Anschluss zur Pressekonferenz über seinen Rücktritt: „Heute kündige ich meinen Abschied aus der Bundesregierung an. In Zeiten der Pandemie braucht es einen Gesundheitsminister, der zu 100 Prozent fit ist. Das bin ich derzeit nicht.“ Mit dem Verzicht auf die ihm zustehenden Fortzahlungen seines Gehalts, entsagt Anschober einem hohen fünfstelligen Betrag. Im Übrigen leisten viele Landeshauptfrauen- und männer, vor und während der Pandemie solide Arbeit, ohne große Schlagzeilen. Politiker:in zu sein ist mit Sicherheit kein leichter Beruf, erst recht nicht in Krisenzeiten. Der Großteil stellt jeden Tag eindrucksvoll unter Beweis, dass es besser geht.

Was bedeutet das für uns?

In Demokratien geht alle Staatsgewalt vom Volk aus – wir wählen Vertreter:innen, die unsere Meinungen abbilden und unsere Interessen repräsentieren. Somit liegt in demokratischen Staaten ein Geben und Nehmen vor. Das Volk legitimiert seine Vertreter:innen, umgekehrt unterliegen diese einer Rechenschaftspflicht. Werden nun gesetzliche Grauzonen durch mangelnden Anstand zunehmend ausgenutzt, gerät dieses wechselseitige Verhältnis ins Wanken. Zunächst jedoch nur einseitig, da die Legitimation ja nach wie vor gegeben ist. Politiker:innen, die ihr Amt missbrauchen, tragen demnach erheblich zur Erosion der Demokratie bei. Politische Inhalte rücken in den Hintergrund, der Umgangston verroht, die Gesellschaft spaltet sich und in der Bevölkerung macht sich Politikverdrossenheit breit. Und nun?

Wir müssen Signale setzen

Die Politiker:innen unseres Landes brauchen immer erst ein „Ja“ des Volkes. Was wir daher tun können? Uns informieren. Hinterfragen. Kritisieren. Aufklären. Je mehr jede:r Einzelne von uns im Bilde ist, desto besser werden wir in Zukunft repräsentiert. Es handelt sich dabei auch beim besten Willen nicht um einen Aufruf zur Cancel Culture, aber nachweislicher Amtsmissbrauch ist eine Disqualifikation. Wir dürfen mehr verlangen als reine Gesetzestreue, die in Grauzonen zu den eigenen Gunsten ausgelegt wird – Politik beruht auf Vertrauen.

Vertrauen in den Rechtsstaat ist nämlich ein wichtiges Schlagwort. Den Auschuss zur Aufhebung von Herbert Kickls Immunität einzuleiten, setzte seinerzeit beispielsweise ein wichtiges Signal. Lauter als die breite Masse zu sein heißt nicht automatisch, sich ihr Gehör zu verschaffen. Die Geldstrafe sowie der Prozess an sich werden dem ehemaligen Innenminister nicht besonders zusetzen. Es ist das Statement gegen sein Verhalten als Volksvertreter, das wirkt.

Um abschließend auf die aufgeworfene Frage zurückzukommen, wie viel Anstand Politiker brauchen: Theoretisch reicht für einige bereits ein Minimum. Praktisch liegt es in unser aller Interesse, ihre Rechenschaftspflicht regelmäßig einzufordern.

Von David Bauer