„Heutzutage ist Schönfärberei statt Selbstkritik angesagt“

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Alfred Tatar

Er ist ehemaliger Fußballspieler- und Trainer, TV-Experte für Sky und hat sich durch seine unkonventionellen Äußerungen den Ruf als „Fußball-Philosophen“ erarbeitet. Alfred Tatar erzählt uns in einem MoMotto der etwas anderen Art, wie er in seinen Tag startet, warum er ein Kritiker des modernen Fußballs ist – und wieso keine Rückkehr auf die Trainerbank geplant ist.

Mein Morgenritual, um in den Tag zu starten…

Tatar_Man kann nicht in den Tag starten, denn wir befinden uns an der Spitze der Zeit – man kann zwar in einen Raum gehen, aber nicht in den Tag starten. Die Vorstellung, in den Tag zu starten, ist eine falsche. Die richtige Frage wäre: Wie gestalte ich den Tag, wie handle ich, dass ich die Zeit, die mir geschenkt wird, bestmöglich verbringe?

Okay, wie verbringst du also deine Zeit bestmöglich nach dem Aufstehen?

Tatar_Indem ich, und das ist das Schönste überhaupt, ganz früh mit meinem Hund spazieren gehe. Noch vor dem Frühstück.

Am meisten motiviert mich…

Tatar_Mein eigener Herzschlag. Der Lebensrhythmus, der mir vorgegeben wird, der mir Energie einhaucht. Es handelt sich also um eine immanente Motivation und keine externe.

Ein Glaubenssatz, der mir hilft:

Tatar_Es soll nur nicht besser werden.

Das musst du bitte erklären.

Tatar_Die Gratwanderung zwischen gut und schlecht ist im Leben immer eine sehr enge. Wenn es besser wird als gut, ist die Gefahr abzustürzen, ebenfalls höher. Es soll also gut bleiben und nicht besser werden.

Der Rat, der mich wirklich weitergebracht hat…

Tatar_Es kommt nichts Besseres nach. Das war ein Rat meiner Großmutter, und er hat sich zu Hundert Prozent erfüllt. Am besten fährst du, wenn du zufrieden bist mit dem, was du hast, und nicht nach dem strebst, was du nicht hast. Ich bin ja ein alter Schopenhauerianer. Der Rat ist genau auf dieser Linie. Schopenhauer hat gesagt: Glück ist die Abwesenheit von Unglück, das ist genau dieselbe Antwort.

Weg von der Philosophie und hin zum Fußball: Welches Missverständnis ist in Österreich am stärksten verbreitet im Bezug auf den Volkssport Fußball, zu dem fast jeder eine Meinung hat?

Tatar_Das größte Missverständnis im Fußball – das gilt nicht nur in Österreich, sondern auch weltweit – ist zu glauben, dass man durch größere Stadien und eine aufwendigere Infrastruktur, eine bessere Verpackung, also, einen besseren Inhalt bekommt. Das ist auch das große Missverständnis des Kapitalismus: Durch eine bessere Verpackung wird der Inhalt besser. In Wirklichkeit ist es so, dass man auf einem stinknormalen Fußballplatz in Österreich genauso guten Fußball geboten bekommt wie im Camp Nou in Barcelona.

Damit kann aber nicht das sportliche Level gemeint sein?

Tatar_Es geht darum: Ich muss meinen Spaß haben können. Dazu brauche ich nicht das Camp Nou oder das Theatre of Dreams. Überall werden neue, größere Stadien mit immer luxuriöseren VIP-Garnituren und dem ganzen Schmarrn gebaut. Es geht mehr um das Drumherum und nicht um die eigentliche Sache, den Fußball selbst. Das Erdige, das Bodenständige, das den Fußball ausmacht, geht verloren.

Während sich immer mehr Menschen als Fans von den erfolgreichsten Vereinen der Welt bezeichnen, scheint vielerorts die Bindung zu regionalen und sportlich weniger erfolgreichen Vereinen verloren zu gehen. Auch eine Folge dieser Entwicklung?

Tatar_Die regionale Bindung wurde auch durch das Fernsehen zerstört, durch das man rund um die Uhr Spiele auf der ganzen Welt sehen kann. In der Pandemie hat man das gesehen, wenn man die englische Premier League geschaut hat. Bis auf wenige Spitzenmannschaften wie etwa Manchester United machen die Spieler dort auch keine wirklich bessere Figur als die in der Südstadt. Wenn man denen ein Dress von der Admira oder Amstetten anziehen würde, wäre es auch dasselbe, sie sind fußballerisch ebenfalls limitiert.

Haben wir verlernt, was Fußball ausmacht?

Tatar_Der Zugang ist uns allen verloren gegangen. Man kann jetzt alle Spiele auf diesem Planeten im TV oder online betrachten. Das wirkliche Erlebnis, wie man als Kind mit dem Fußball sozialisiert worden ist, das Spiel selbst, ist aber gleich – egal, ob im Nou Camp in Barcelona oder am Fußballplatz in meiner Heimat Zillingdorf. Das kann man mir glauben. Ich war in den größten Stadien der Welt. Die Verpackung ist kein Mehrwert.

Kann man Sie also als Gegner des kommerziellen, modernen Fußballs bezeichnen?

Tatar_Nicht als Gegner, sondern als Kritiker. Der kommerzialisierte Fußball bringt auch teilweise Positives hervor. Aber es sind exorbitante Summen im Umlauf, von großen Kapitalisten wie der Glazer-Familie aus Amerika – oder Investoren aus dem arabischen Raum. Das ist keine positive Entwicklung. Es braucht einen puristischen Fußball, leider ist dieses Element verloren gegangen.

Durch die schnell wieder eingestampfte Super League scheint ein neues Bewusstsein für die Werte des ursprünglichen Fußballs zu entstehen. Wie sehen Sie die Entwicklung des Fußballs in der Zukunft?

Tatar_Es wird interessant, wo sich die ganzen finanziellen Gebahren hin entwickeln, wie die Vereine das handhaben. Wie wird das alles finanziert in Zukunft? Wer hat die Macht in den Vereinen – die Geldgeber oder die Funktionäre? Der Fußball befindet sich an einer schwierigen Gratwanderung. Es würde ihm gut tun, neue Regeln wie Gehaltsobergrenzen für Spieler einzuführen, um die finanziellen Aspekte in den Griff zu bekommen. Es kann nicht sein, dass Vereine wie Real Madrid oder FC Barcelona eine Milliarde Euro Schulden haben, und dann tut man so, als wäre das keine Wettbewerbsverzerrung. Ökonomische Gerechtigkeit wird es logischerweise nie geben, aber dass es keinen Sinn hat, wie es jetzt läuft, ist wohl offensichtlich.

Und wie wird sich der Fußball auf dem Spielfeld verändern?

Tatar_Da gibt es noch viel Platz für zukünftige Entwicklungen, das Spiel zu verbessern, ohne an der Grundstruktur zu nagen. Die Sache mit der Handspielregel ist nach wie vor nicht im Griff. Sehr problematisch für mich ist der neue Video Assistent Referee (VAR). Dadurch entstehen absurde Situationen, wo Tore zurückgenommen werden oder Elfmeter gegeben werden, weil der Schiedsrichter das Foul übersehen hat. Ich hoffe, dass sich die ganze Überwachungsmanie, die sich in unserer restlichen Gesellschaft schon ausgebreitet hat, nicht auch im Fußball genauso verbreitet.

Zurück deiner Person: Du hast nach deiner Karriere als Spieler jahrelang als Trainer und Co-Trainer in Österreich und Russland gearbeitet. Würdest du irgendwann eine Rückkehr auf die Trainerbank reizen?

Tatar_Eine Rückkehr ist nicht geplant. Das wäre wie damals bei Edith Klingers "Wer will mich?“ im ORF, ich würde in der Tierecke aufscheinen, aber keiner würde für mich anrufen.

Warum nicht?

Tatar_Wir sind in einer Welt angekommen, wo keine öffentliche Selbstkritik gefragt ist, sondern nur Schönfärberei, um selbst möglichst gut dazustehen. So bin ich aber nicht. Ich stelle mich hin und spreche an, was schlecht läuft. Und wenn etwas gut läuft, überhöhe ich das nicht. Ich bin nicht mehr dabei bei dieser Verpackungspolitik, die überall im Sport, in der Wirtschaft und besonders in der Politik Einzug gehalten hat. Daher bin ich auf diesem Markt kein gefragtes Objekt.

Hört sich so an, als ob da Bitterkeit mitschwingen würde.

Tatar_Bitter ist es für mich nicht. Da sind wir wieder beim Anfang: Ich bin ein Schopenhauerianer. Ich weiß, dass niemals etwas Besseres nachkommt. Die Welt, in der ich sozialisiert worden bin in den 70er- und 80-er Jahren hat nichts mehr mit der heutigen Welt zu tun, die Werte von damals gibt es nicht mehr. Die Unterjochung des Kapitals ist abgeschlossen, die ökonomischen Zwänge haben sich durchgesetzt. Ich sehe das recht pragmatisch und nüchtern und wende mich den richtig wichtigen Dingen zu: Meinen Tag so zu gestalten, dass er für mich sinnvoll ist.

Von Valentin Lischka